Sonntag, 25. Januar 2015

Montag Frühdienst

Ich beginne mit dem Frühdienst am Montag.
Der Frühdienst startet morgens um 6:00 Uhr. Ich fahre mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock. Der Flur dieser Wohngruppe ist ca. 50 Meter lang, hier verteilen sich Büro, acht Bewohnerzimmer davon vier Rollstuhlgerecht, Küche, Sitzecke mit Fernseher, Pflegebad und Lagerraum. Von einem kleinen Nebenflur geht es zum Aufzug und zum Hauswirtschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner.
Zwei Frauen und sechs Männer müssen aus dem Bett geholt und pünktlich zum Fahrdienst in die Werkstatt oder zum ABFB (Angebot zur Beschäftigung, Förderung und Betreuung) gebracht werden. Zunächst muss ich aber die Temperatur in den beiden Kühlschränken in der Küche und im Medikamentenkühlschrank im Büro kontrollieren und aufschreiben.

Für eine halbe Stunde bin ich allein auf der Gruppe. Ich muss zuerst auf das Zimmer einer jungen Frau, um die piepende Wasserpumpe abzuschalten, die zuvor von der Nachtwache an die PEG-Sonde der Bewohnerin angeschlossen wurde, und um der jungen Frau die Morgenmedikation per PEG-Sonde* zu geben. Das heißt, Tabletten in einem Mörser zermahlen, in etwas Wasser auflösen, auf eine große Spritze ziehen und durch den Sondenschlauch spritzen. Die Bewohnerin ist mit Hepatitis C infiziert, halbseitig gelähmt, inkontinent und hat ein Anfallsleiden. Sie kann sich verbal äußern und verfügt über ein gutes Sprachvermögen.

Die pädagogische Arbeit fängt hier auch schon um 6:00 Uhr an, denn die junge Frau möchte eine Zigarette rauchen, was sie nicht alleine kann. Jeden einzelnen Morgen aufs neue muss ihr verständlich gemacht werden, dass das nicht möglich ist. Keine Zeit, alle müssen pünktlich los. Jeden Morgen ist man dann einer ordentlichen Portion Beschimpfungen und Beleidigungen ausgesetzt.

Raus, Tür zu und rüber in das Zimmer der nächsten Bewohnerin. Hier darf man jeden Morgen aufs neue gespannt sein, was einen erwartet.
Diese Bewohnerin ist ebenfalls halbseitig gelähmt und hat darüber hinaus starke Spastiken** und eine Skoliose***. Auch diese Frau verfügt über ein gutes Sprachvermögen, hat allerdings durch ihre Spastiken etwas Probleme beim Sprechen. In der Regel ist sie kontinent, es kommt allerdings vor dass sie aufgrund psychischer Probleme nachts einnässt. Darüber hinaus kann es sein, dass sie die Morgenpflege verweigert, weil sie nicht in die Werkstatt will. Entweder dreht sie sich zur Wand und spricht kein Wort, oder aber es kommt auch vor, dass sie die betreuende und pflegende Person anschreit und tritt.
An dieser Stelle sei klar gestellt, dass der Protest der Bewohnerin an sich kein Problem darstellt. Das gehört täglich zu dieser Arbeit. Das Problem ist eher, dass man in dieser Situation stets allein entscheiden muss. Gutes Zureden, Nachfragen was los ist, Aufzeigen der Konsequenzen wie z. B. dass ihr ein Urlaubstag abgezogen wird oder dass sie dann weniger Geld verdient, hilft nur manchmal. Darüber hinaus hätte ich nur die Möglichkeit, über ihren Protest hinweg an ihr herumzuzerren, sie auszuschimpfen und so gegen ihren Willen zu pflegen und aus dem Bett zu holen. Was ich niemals (!) getan habe. Sehr oft beklagt sich diese Bewohnerin über Bauchschmerzen. Es ist für mich wenig bis gar nicht ersichtlich, ob an dem Bauchweh auch wirklich etwas dran ist oder ob sie diese vorgibt, damit sie nicht in die Werkstatt muss. Was mir bleibt, ist mein ermessen, vielleicht noch mein Bauchgefühl. Es kam auch vor, dass ich die Bewohnerin dann auf der Gruppe behalten habe und nicht zur Werkstatt habe gehen lassen, da ich persönlich überzeugt davon war, dass sie sich nicht gut fühlt.

Und hier das erste Problem, das mir als allein arbeitetende Nichtfachkraft im Dienst stets Kopfzerbrechen bescherte, weil ich immer damit rechnen musste, dass dies Ärger nach sich zog: Habe ich es letztendlich also mit den oben beschriebenen sinnvollen Methoden nicht geschafft, die Bewohnerin aus dem Bett zu holen, oder habe ich der Bewohnerin wegen ihrer Bauchschmerzen gestattet, auf der Gruppe zu bleiben, gab es in der nächsten Teamsitzung von der Gruppenleitung stets den Kommentar, dass die Bewohnerin ganz sicher zur Arbeit gegangen wäre, hätte sie (die Gruppenleiterin) diesen Frühdienst gemacht. Also ein kleiner Seitenhieb, mit dem mir mein Versagen bei der Arbeit vorgeworfen wurde.

Angenommen, die Bewohnerin hat nicht eingenässt und geht ohne Protest in die Werkstatt, sieht der Frühdienst Montags bis Freitags bei ihr so aus: Schlafanzug im Bett ausziehen, Morgenwäsche ebenfalls im Bett. Deo unter die Achseln sprühen, Unterwäsche, Socken und Hose anziehen. Dann aus dem Bett liftern und auf die Toilette setzen. Dort sitzt sie in der Regel eine halbe Stunde.

In der Zwischenzeit ist ein Kollege gekommen, der auf 400-Euro-Basis arbeitet und ausschließlich dafür da ist, das Frühstück für die Bewohner zu machen. Auch er ist keine examinierte Kraft.

Der nächste Bewohner kommt mir bereits auf dem Flur entgegen. Er kann mit Einschränkung laufen, verfügt über wenig Sprachvermögen, versteht aber alles was man ihm sagt, hat ein äußerst schlechtes Kurzzeitgedächtnis und benötigt Begleitung bei der Pflege. Sein Inkontinenzmaterial (IKM) hat für die Nacht nicht gereicht und er hat eine nasse Schlafanzughose.
Sein IKM ist genau berechnet und abgezählt, und nur das wird vom Amt bezahlt. Es wäre also "Verschwendung", wenn die Nachtwache ihn ein mal in der Nacht mit frischem IKM versorgen würde, der Bewohner käme damit nicht über das Quartal.
Auch dieser Bewohner möchte eine Zigarette rauchen. Ich gieße ihm eine Tasse Kaffee ein. Damit können wir Betreuer ihn bestechen, sich erst mal auf die Toilette zu setzen und sein morgendliches Geschäft zu verrichten.

Und schon macht der nächste Bewohner per Klingel auf sich aufmerksam. Dieser Bewohner ist halbseitig gelähmt, kommt allerdings mit Hilfe seiner gesunden Seite recht gut klar. Ich muss ihm über das betroffene Bein einen Stützstrumpf ziehen und ihm aus dem Bett in den Rollstuhl helfen.

Schon meldet sich die Bewohnerin, die ich eben auf die Toilette gesetzt habe, per Klingel. Ich gehe zu ihr liftere sie von der Toilette herunter, muss für sie stellvertretend die Intimpflege vornehmen, Unterhose und Hose hochziehen und dann in ihren elektrischen Rollstuhl liftern. Nachdem ich sie von ihrem Liftergurt befreit habe, muss ich ihr ein Korsett umschnallen, Pullover und Schuhe anziehen, Sicherheitsgurt schließen, beim Zähneputzen begleiten und assistieren, Haare bürsten und frisieren, Gesicht eincremen und dann zum Frühstück bringen. Hier hänge ich ihr einen Kleiderschutz um, damit ihre Kleidung durch herunterfallende Nahrungsstücke nicht schmutzig wird.

Und nun bräuchte ich zwei Klone von mir. Die Bewohnerin, die ich gerade an den Frühstückstisch geschoben habe, braucht Hilfe beim Essen, denn sie könnte sich aufgrund ihrer Spastiken böse verschlucken. Besteck und Plastiktasse kann sie mit Schwierigkeiten allein halten und benutzen. Der Bewohner mit dem Kaffee auf der Toilette muss duschen, wobei er begleitet werden muss. Und der Bewohner, dem ich eben den Stützstrumpf angezogen habe, meldet sich per Klingel, denn er benötigt Assistenz beim Anziehen.

Wie das gehen soll? Das darf keiner wissen! Unsere 400-Euro-Kraft ist eine gute Seele und sehr hilfsbereit. Er duscht den Bewohner mit dem Kaffee. Ich helfe dem Bewohner, der geklingelt hat, beim Anziehen. Und die Bewohnerin am Frühstückstisch muss entweder allein essen oder warten.

Zurück am Frühstückstisch habe ich nun drei Bewohner: den mit dem Kaffee, die Frau im E-Rolli und den Bewohner, dem ich beim Anziehen geholfen habe. Ich gebe allen dreien ihre Morgenmedikation. Es ist keine Fachkraft da, die mir die Medikamente gibt und mir sagt, wem ich was geben soll. Die Medikamente sind gestellt, ich weiß wo ich sie finde und muss sie in voller Eigenverantwortung den Bewohnern zur Einnahme geben. Während die Bewohnerin im E-Rolli ihr Frühstück zu sich nimmt, packe ich ihr Essen und Getränk für die Werkstatt in ihre Tasche.

Der nächste Bewohner kommt an den Frühstückstisch. Er ist ebenfalls halbseitig gelähmt, kann allerdings laufen und ist relativ selbstständig. Er verfügt über sehr wenig Sprachvermögen, äußert sich vor allem über zeigen, Schrift und emotionale Ausdrucksweisen wie Augenrollen und Lachen. Ich gebe ihm seine Morgenmedikation.

Der Fahrdienst für die Bewohnerin im E-Rolli und den Bewohner im Rollstuhl klingelt. Ich helfe beiden in ihre Jacke und bringe sie runter.

Oben wieder angekommen, kommt mir der nächste Bewohner mit seiner Gehhilfe (Rollator) entgegen. Dieser Bewohner kommt auf den ersten Blick selbstständig zurecht. Er geht extrem langsam und vorsichtig. Er möchte mir etwas erzählen oder hat eine Frage an mich. Ich muss es ignorieren, denn ich muss einen weiteren Bewohner wecken und die Bewohnerin mit PEG-Sonde aus dem Bett holen.

Dem nächsten Bewohner, den ich wecken muss,  sieht man seine Einschränkungen nicht an. Er hat keinerlei körperliche Behinderungen. Allerdings hat er ein sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis, benötigt ständige Erinnerungen und bei Arztbesuchen Begleitung, da er sich sonst verlaufen würde. Er ist ebenfalls mit Hepatitis C infiziert. Allerdings hat er eine Form von Hepatitis C, die behandelbar ist. Das heißt unter anderem, dass der Frühdienst Montags morgens ihm eine Spritze geben muss. Die Spritze gebe ich ihm natürlich nicht, da ich keine examinierte Kraft bin. Ich schreibe ins Dienstbuch für den Spätdienst auf, dass der Bewohner noch seine Spritze bekommen muss.

Auch hier gab es regelmäßig Konflikte mit meiner Gruppenleiterin. In den Teamsitzungen wurde ständig gesagt, dass doch der Frühdienst Montags dem Bewohner die Spritze geben muss. Und dass der Träger, für den wir arbeiteten, einen Kurs für einen internen Spritzenschein anbiete. Ich habe mich allerdings erkundigt und herausgefunden, dass ich dann trotzdem keine Spritzen verabreichen darf, so lange wie ich kein Examen in einem Pflegeberuf habe. Ich verlangte nach einer schriftlichen Anweisung der Bereichsleitung, dass ich dem Bewohner die Spritze geben muss. Diese habe ich allerdings bis heute nicht bekommen. In die langen Gesichter meiner Kollegen und Kolleginnen musste ich trotzdem ständig gucken. Den Dienstplan so zu schreiben, dass ich Montags keinen Frühdienst machen muss, war nicht möglich. Und eine andere Kollegin von mir, die ebenfalls keine examinierte Kraft im Pflegebereich ist, gibt ihm die Spritze, wenn sie Montags Frühdienst macht.

Ein weiterer Bewohner steht selbstständig mit Wecker auf und kann sich um seine Morgenpflege allein kümmern. Ich habe lediglich ein Auge darauf, dass er tatsächlich irgendwann an den Frühstückstisch kommt. Er bekommt von mir seine Morgenmedikamente gereicht.

Der Fahrdienst des Bewohners, der sich mit Hilfsmitteln äußert, schellt. Ich gehe an das andere Ende des Flurs zu dem Zimmer des Bewohners, klopfe an seine Tür und gebe ihm bescheid, dass sein Fahrdienst auf ihn wartet.

Die Reinigungskraft beginnt ihren Dienst auf unserer Gruppe.
Ich begebe mich nun zurück an das eine Ende des Flurs in das Zimmer der jungen Frau mit PEG-Sonde. Ich richte die Lehne von ihrem Bett auf, reiche ihr eine Zigarette, stelle ihr den Aschenbecher auf den Bauch und zünde ihr die Zigarette an. In der Zeit wo sie raucht, hole ich die Waschschüssel mit Seifenwasser, Waschlappen und Handtücher ran. Zwischendurch sehe ich immer wieder nach ihr und asche die Zigarette für sie in den Aschenbecher ab. Wenn sie fertig ist mit rauchen, beginne ich bei ihr die Morgenpflege.

In der Zwischenzeit verabschiedet sich mein Kollege und geht nach Hause.

Die Bewohnerin ist 1,78 Meter groß und hat kaum Körperspannung. Ihre betroffene gelähmte Seite so wie Ihre Füße sind hoch empfindlich, ich muss bei der Pflege sehr aufpassen. Ich ziehe ihr das Nachthemd aus, wasche sie obenrum, rolle ihr Deo unter die Achseln und ziehe ihr obenrum Unterwäsche und Shirt an. Dann entferne ich das IKM, wasche sie untenrum, ziehe ihr frisches IKM sowie Socken, Hose und Schuhe an. Dann liftere ich sie in ihren Rollstuhl. Jeden Tag aufs neue ist dies sehr anstrengend, denn egal wie man es dreht oder wendet, sie hängt immer so in dem Liftertuch dass es irgendwo drückt und nervt. Sie beschwert sich und beschimpft mich aufs äußerste. Dann endlich im Rollstuhl angekommen, lege ich ihr ein Kissen unter den gelähmten Arm, schnalle sie im Rollstuhl fest und schiebe sie rüber zum Badezimmer. Hier reinige ich ihren Mundraum mit einem Zahn, befestige ihre Zahnprotese an ihrem Kiefer, bürste und frisiere ihre Haare und creme ihr Gesicht ein. Dann fahre ich sie rüber zum Früstückstisch. Mit Hilfe einer Goodgribb-Gabel nimmt sie ihr Frühstück zu sich. Dabei benötigt sie von mir viel Assistenz und Hilfe, da sie häufig einen starken Tremor**** hat. Zwischendrin bekommt der Bewohner mit Hepatitis C seine Morgenmedikation von mir. Wenn die Bewohnerin, die jetzt gerade im Rollstuhl sitzt und versucht, ihr Frühstück zu sich zu nehmen, einen schlechten Tag hat, und dass kommt häufig vor, muss ich sie im Rollstuhl ständig wieder aufrichten. Denn trotz all der zur Verfügung stehenden Polsterungen und Halterungen fällt sie dann zur Seite weg und droht aus dem Rollstuhl zu fallen. Wenn sie mit Frühstücken fertig ist, schiebe ich sie wieder in ihr Zimmer, dort raucht sie mit meiner Hilfe noch eine Zigarette. Nebenbei beziehe ich ihr Bett neu und räume das Zimmer auf. Um 9:25 Uhr bringe ich die Bewohnerin zusammen mit den vier Männern, die noch auf der Gruppe sind, zum ABFB im ersten Stock desselben Hauses.

Wieder oben angekommen, räume ich das Zimmer der Frau im E-Rolli auf und mache ihr Bett. Dann gehe ich in das Zimmer des Bewohners, der morgens mit einem Kaffee bestochen wird. Hier muss ich in der Regel das komplette Bettzeug auswechseln, da es nass ist. Dann mache ich einen Rundgang durch die Zimmer der anderen fünf Männer. An guten Tagen ist hier alles in Ordnung.

Bevor ich die Dokumentation schreibe, räume ich das Frühstücksgeschirr weg und putze die Küche obenrum. Wenn ich einen schweren Tag habe, wo einfach alles zusammen kommt, was passieren kann, ist unsere Reinigungskraft, die gute Seele, so lieb und hilfsbereit und bringt die komplette Küche für mich in Ordnung.

Wenn kein Bewohner wegen Urlaub oder Krankheit auf der Gruppe bleibt, habe ich um 10:00 Uhr Feierabend. Bis dahin muss ich mit allem fertig sein.

*http://de.wikipedia.org/wiki/Perkutane_endoskopische_Gastrostomie
**http://de.wikipedia.org/wiki/Spastik
***http://de.wikipedia.org/wiki/Skolios
****http://de.wikipedia.org/wiki/Tremor

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